Alltag # 114
Marie plant ein Experiment. Dafür braucht sie Eiswürfel. Sie drückt ein paar davon in eine kleine Schale und verfrachtet den Rest zurück in das Tiefkühlfach ihres Kühlschranks. Sie greift nach einer Flasche und jetzt fehlt nur noch ein Glas und dann kann sie sich auf den Weg machen. Sie will zur schwarzen Halskette. In der Flasche ist Tsipouro, die griechische Variante von Grappa. Aus Frankreich, wo sie gerade war, hat sie keinen Schnaps mitgebracht. Nur neue Gefühlslagen. Also muss jetzt der Tsipouro für ihr Experiment herhalten. Marie war wegen Miriam in Frankreich. Miriam hat sich dort mit ein paar Freunden ein Haus gekauft. Es steht am Rand eines schönen Dorfes und hat einen großen Garten. Dass sie dort war, kommt ihr schon so weit weg vor. Aber etwas beschäftigt sie noch. Lässt sie nicht los. Raoul. Sie hat ihn dort kennengelernt. Beide haben sie beim Renovieren des Hauses mitgeholfen. Gleich am Anfang gefiel ihr, dass sich Raoul wie ein Hütehund verhielt. Saßen sie abends um den Tisch, war er stets darauf bedacht, dass sich alle wohl fühlten. Das gelang ihm auch. Er kochte für alle. Bezog alle ein. Er mochte es nicht, wenn die Gruppe auseinander fiel und jeder etwas nur für sich machte. Auch hatte ihr gleich gefallen, dass Raoul so viel mit seinen Augen ausdrücken konnte. Er brauchte ihr keine Komplimente zu machen oder einen Arm um ihre Schultern zu legen. Ein Blick von ihm genügte und sie wusste, in welche Richtung er ihre Begegnung schubsen wollte. Aber am allermeisten mochte sie, dass er so ausdauernd interessiert war, ihr das Lippenbalsam von den Lippen zu küssen. Nach zehn Tagen musste sie abreisen. Als er sie mit seinem Auto zum Bahnhof gebracht hatte und sie auf ihren Zug warteten, holte er ein Geschenk für sie heraus. Sie riss das Papier noch am Bahnhof auf. Es war eine Halskette. Schwarze Kugeln an einer Schnur aufgefädelt und einzeln aneinander geknotet. Für sie waren das lackierte Holzkugeln. Raoul meinte aber, dass es Kerne einer Frucht und dass sie von Natur aus so groß und schwarz seien. Angezogen reicht ihr die Kette bis zum Bauchnabel. Aber schon im Zug hatte sie sie wieder abgenommen. Sie trägt keinen Schmuck. Nicht am Hals, nicht an den Ohren und auch nicht an den Armgelenken. Raoul hatte das wohl nicht bemerkt oder wollte diese Tatsache bewusst übergehen. Schmuck ist für Marie, wie so vieles andere auch, nur etwas, das sie noch zusätzlich mit sich herumschleppen muss. Etwas, das zum Gewicht ihres Körpers dazu kommt. Den Pfunden ihres Körpers entkommt sie nicht so schnell, aber dem Gewicht eines Schmuckstücks schon. Solche Extras kann sie ablegen. Marie mag es, wenn ihre Arme, ihre Ohren und ihr Hals frei sind. Sie will dort nichts spüren müssen. Dort soll sich nichts an ihr reiben oder sich an ihr erwärmen können. Das muss nicht sein. Marie erreicht den Schreibtisch und stellt die Utensilien, die sie für den Versuch benötigt, ab. Als sie aus Frankreich zurück kam, hat sie die Kette gleich auf ihren Schreibtisch gelegt. Dort sitzt sie jeden Tag. Sie hat sein Geschenk zu einem kleinen Häufchen aufgetürmt. Gerade liegt es neben ihrem Laptop. Marie befördert ein paar Eiswürfel von der Schale in ihr Glas und wirft erneut einen Blick auf die Kette. Raoul hat sie noch nicht bei allen Lichtverhältnissen gesehen, seine Kette schon. Die hat sie schon bei Tageslicht gesehen, bei Glühbirnenlicht, in der Dämmung, bei Gewitter, bei Regen und bei Sonnenschein. Und einmal hat sie sie auch schon mit der Taschenlampe ihres Telefons angestrahlt. Sie wollte sich die Oberfläche ganz genau ansehen und war dann enttäuscht, dass sie nichts Spezielles darauf hat entdecken können. Der Name der Frucht ist ihr entfallen. Das bedauert sie. Sie hätte ihn gerne gegoogelt. Sie hätte gerne gewusst, wie eine Frucht aussieht, die so große Kerne produzieren kann. Marie öffnet die Flasche Tsipouro und erinnert sich daran, wie froh sie darüber war, dass Raoul ihr etwas geschenkt hatte, das keinen Anfang und kein Ende hat. Die Kette ist einfach ein in sich geschlossener Kreis, der in der Mitte offen ist. Das ist doch eine ideale Grundlage für eine Beziehung, denkt sie, wenn etwas gleichzeitig immer offen und immer geschlossen sein kann. Aber noch kann alles zu Grunde gehen. Sie kann noch alles zu Grunde richten. Sie ist eine Spezialistin dafür. Denn noch ist ihre Geschichte klein. Ein kleines Pflänzchen mit wenig Wurzeln. Es braucht nicht viel Kraft und schon hat man es ausgerissen. Hat sie es ausgerissen. Marie hat sich vorgenommen, Raoul zu antworten. Heute. Sie möchte auf seine SMS reagieren. Die Kette hat sie auf ihren Schreibtisch gelegt, um ihr nah sein zu können. Aber Raoul antwortet sie schon seit über zwei Wochen nicht. Ketten nah zu sein, ist einfach, denkt sie, und versteht nicht genau, was sie vor Raoul verstecken möchte. Er hat sie nur gefragt, wann sie sich wiedersehen. Marie gießt sich Tsipouro ein. Sie hofft, dass der Alkohol ihr Schweigen unterbrechen wird, damit sie in ihr Telefon tippen kann, was sie fühlt oder nicht fühlen möchte. Marie schüttet die ersten zwanzig Millimeter hinunter. Sie schmecken gut. Die Zunge und der Hals brennen angenehm. Weiter gehts. Marie legt eine Hand auf die Kette und kippt mit der anderen das zweite Glas hinunter. In einer Stunde wird sie hoffentlich Antworten parat haben.