Alltag # 106
Sebastian liest Zeitung. Nach ein paar Minuten stellt er fest, dass er nicht mehr weiß, was er gerade gelesen hat. Die Worte haben keine Haftkraft entwickelt. Seine Gedanken sind woanders. Bei Johannes. Monatelang schleppt er nun schon etwas mit sich herum. Er möchte mit Johannes nicht mehr auf das Musikfestival fahren. Heute werde ich ihm das sagen, denkt er sich. Sebastian liest den letzten Absatz des Artikels noch einmal durch, blättert um und versucht es mit einem anderen Artikel. Nach dem Zeitunglesen werde ich ihn anrufen und ihm absagen, denkt er sich. Heute werde ich das einfach hinter mich bringen. Bestimmt schaffe ich das. Sebastian liest weiter, aber jetzt meldet sich sein Körper. Etwas stimmt mit ihm nicht. Sebastian kann nicht sagen was. Vielleicht, denkt er sich, brauche ich nur ein Glas Wasser. Bestimmt bin ich bloß dehydriert. Er schiebt die Zeitung weg und steht auf. Schlagartig bildet sich Schweiß auf der Stirn und seine Ohren fühlen sich wie in Flammen stehend an. Wie früher, wenn sie wegen den Mädchen, die ihm gefallen hatten, feuerrot angelaufen sind. Sebastian fasst sich ans linke Ohr. Der mit Haut überzogene Knorpel glüht und in beiden Gehörgängen rauscht es. So als würde er sich unter Wasser neben einem Schiffsmotor aufhalten. All das kennt er so nicht. Es stresst ihn. Nun ist auch ein Schmerz zu spüren. Er hat keine eindeutigen Grenzen, ist an den Seiten ausgefranst. Das Epizentrum scheint aber im Bauchraum zu sitzen. Dort trommelt es dumpf. Sebastian will ins Bad. Sich im Spiegel ansehen. Im Flur hält er sich mit einer Hand an der Wand fest. Die Füße heben sich nicht mehr so leicht. Sind entkräftet. Er passt sich ihnen an. Geht langsam. Schleicht. Kommt vorwärts. Zwei Meter kommen ihm ewig lang vor. Die Haut in seinem Gesicht fühlt sich kalt an, auch der Schweiß. Er wischt sich den nassen Film mit dem Handrücken aus der Stirn. Erreicht das Bad, drückt die Tür auf. Der Spiegel muss warten. Er klappt den Toilettendeckel hoch und erbricht sich. Er stützt seine Hände auf seinen Knien ab, bekommt mehr Stabilität, erbricht sich erneut und dann noch einmal und dann noch einmal. Sein Hals brennt. Magensäure haftet am Gewebe der Speiseröhre und versucht gerade die Speiseröhre zu verdauen. Sebastian wäscht sich die Hände, lässt Wasser in den Handteller laufen und schlürft in kleinen Schlucken Wasser in sich hinein. Er will den ekelhaften Geschmack im Mund und das Brennen im Hals loswerden. Er sieht in den Spiegel. Was ihn am meisten erschreckt: Seine Lippen sind kreideweiß und seine Haare klatschnass. Ihm fällt ein, dass es in seiner Wohnung kein weiteres Wesen gibt. Keine Geliebte, kein Kind und keinen Hund. Nichts, was jetzt aus der Tür laufen und Hilfe holen könnte. Wäre das jetzt nur ein Film, könnte er mit der Fernbedienung ein paar Minuten vorspulen. Er stützt sich mit den Händen am Waschbecken ab. Er will Zeit gewinnen. Kaum haben die Hände die Keramik berührt, braut sich im Magen schon wieder Druck auf. Sebastian dreht sich zur Seite und schafft es gerade noch so, seinen Mund erst über der Toilettenschüssel zu öffnen. Und schon würgt sein Körper einen weiteren Schwall hervor. Flüssigkeit vermischt mit Unverdautem. Auch das Leitungswasser von gerade eben ist mit dabei. Sebastian kehrt zum Waschbecken zurück und versucht sich an etwas angenehmes zu erinnern. Er denkt an die Spatzen, die er heute Vormittag gehört aber nicht gesehen hat. Ihr Tönen hatte ihn getröstet. Das tun Spatzenlaute bei ihm immer. Auch wenn es gar nichts zu trösten gibt, trösten sie ihn. Ein dumpfer Schmerz schüttet ihn zu. Löscht seinen Gedankenfluss aus. Neuer Schweiß bildet sich. Tropfen laufen vom Haaransatz über seine Stirn und verfangen sich in seinen Augenbrauen. Er wischt sie mit dem Ärmel seines Hemdes ab. Etwas funktioniert also doch noch, denkt er sich. Die Ausschüttung von Schweiß. Der Körper sucht noch nach Lösungen und lässt dabei ganz pragmatisch sein Programm ablaufen. Bestimmt würde das, was ihm jetzt gerade widerfährt, genau so in einem Schulbuch stehen. Sebastian fühlt Schwindel. Eventuell, denkt er sich, werde ich gleich umfallen. Wahrscheinlich ist das auch eine Lösung. Johannes muss ich heute nicht mehr anrufen. Mein Körper hat mich zum Glück außer Gefecht gesetzt. Der Körper ist schlau, sagt er sich noch, und dann sagt er sich erst einmal nichts mehr. Er sinkt zu Boden und richtet sich dort ein neues Zuhause ein. Vorübergehend.