Alltag # 98
Marie steht am Fenster, sieht vom dritten Stock auf den verschneiten Gehweg hinunter und beobachtet, wie ein Mann Kieselsteine ausstreut. Sie genießt den Anblick seiner schwungvollen Armbewegungen. Der letzte Sonntag fällt ihr ein, der Nachmittag bei Tanja. Dort hat sie auch oft aus dem Fenster geschaut, über die Terasse in den Gemeinschaftsgarten, um sich an dem vielen Weiß zu erfreuen. Sie mag diese sanfte Macht, die einfach alles ohne Unterschied zudecken darf. Tanja hatte ein paar Freunde zu sich ins Atelier eingeladen. Es gab Glühwein, Kaffee, Tee und Kuchen. Als Marie gegen drei Uhr ankam, war alles in bester Ordnung, sie fühlte sich wohl in ihrer Haut. Von der U-Bahnstation bis zu Tanjas Hausnummer summte sie eine erfundene Melodie. Tanjas Freunde saßen bereits um einen großen Holztisch und es schien so, als hätten sie mit dem Kuchenessen noch auf Marie gewartet. Neben Jacob war noch ein Platz frei. Marie hing ihren Dufflecoat über die Stuhllehne und sah sich nach einer Tasse um. Sie griff am Ende des Tisches nach einer blauen Emaille-Tasse, ließ sich von Tanja Glühwein eingießen und setzte sich. Gleich danach kündigte Tanja an, die Kuchen anzuschneiden, aber es lag kein langes Messer auf dem Tisch. Marie wollte Tanja entlasten und sagte: »Bleib sitzen, ich gehe eines holen.« Als sie sich von ihrem Stuhl erhob, rief Jacob quer über den Tisch: »Hey Peter, magst du dich zu mir setzen?« Peter nickte. Dass Jacob dieser Wechsel freute, konnte jeder an seinem Gesicht ablesen. Marie blieb kurz stehen, zuckte mit den Schultern und dachte, umso besser, jetzt kann ich neben Tanja sitzen. Die Kuchen schmeckten köstlich und der Nachmittag ging fröhlich und entspannt weiter. Die Tassen und Gläser klirrten und es dudelte das Lied von Nina Simone: Feeling Good, das Jacob laut mitsang. Inzwischen hatte sich im Atelier der angenehme Duft von geschälten Mandarinen ausgebreitet und Marie genoß immer noch den Blick nach draußen. Ganz besonders die weißen Polster, die sich in den Bäumen und an den Astgabelungen anhäuften. Aber als sie dann am Abend wieder zu Hause war und den Abend Revue passieren ließ, war da nur noch Jacobs Satz, an den sie sich am meisten erinnerte. Alles andere entglitt ihr langsam, konnte sie bald schon nicht mehr abrufen. Und heute, drei Tage später hallen seine Worte immer noch in ihrem Kopf nach und mit ihnen ein tief sitzendes unangenehmes Gefühl. Marie hält den Satz fest. Sie braucht ihn noch. Sie will ihn Jacob vorhalten, noch lange. Sie will ihn nicht freisprechen. Auch wenn sie gerne anders wäre und wünschte, solche Sätze würden sie nicht so erschüttern.