Alltag # 93 ( Sebastian und Tamaras SMS…)

Alltag # 93

»Kommt ab fünf Uhr«, steht in Johannes E-Mail und der Name des Parks, und dass der Treffpunkt circa dreißig Meter südlich vom Brunnen ist. Sebastian muss nur noch das Buch fertig einpacken, dann kann er los. Umgezogen hat er sich schon. Er trägt seine dunkelblaue Jeans und ein graues T-Shirt. Mit diesem Outfit kann er sich gut ins Gras legen. Denn er weiß jetzt schon, dass es bei Johannes Picknick zu wenig Decken geben wird. Der Platz darauf knapp sein wird. Für das Picknick hat er helle Trauben gekauft. Sie haben eine dünnere Haut. Mit den roten hat er immer Probleme. Sobald er das Fruchtfleisch heraus gequetscht hat, will er die zähe Schale nicht am Stück hinunterschlucken und auch nicht auf ihr herum kauen, um sie kleiner zu kriegen. Am liebsten spuckt er sie aus. Aber nicht in der Gegenwart von anderen. Die hellen Trauben sind bereits gewaschen. Die Restfeuchtigkeit hat er mit Papiertüchern abgetupft und die Beeren mit den angefaulten Stellen sorgfältig entfernt. Er will es den anderen ersparen, mit Fingern in Matsch zu greifen. Der gekühlte Weißwein liegt im Stoffbeutel, ebenso die zwei Kilo Trauben. Beides hat er schon vor Tagen besorgt. Er ist froh, wenn alles schon griffbereit bei ihm zu Hause liegt und er sich nicht mehr mit der Frage herumplagen muss, was er mitbringen kann. Das Buch ist bereits in Seidenpapier eingeschlagen. Jetzt will er es noch mit ein paar Ohren ausstatten. Die hält er schon in der Hand. Er hat sie einem Stofftier aus einem Second Hand Laden abgeschnitten. Sebastian tackert die Ohren am oberen Rand des Buches fest und schmunzelt. Johannes werden die Eselsohren gefallen. Sebastian verstaut das Geschenk im Stoffbeutel und holt seine Espadrilles aus dem Schrank. Gerade als er in sie hineinschlüpfen will, erreicht ihn eine SMS von Tamara. Schon wieder. Gestern Abend wollte sie von ihm wissen, ob er zu Johannes Geburtstagspicknick gehen wird. Er hatte ihr mit einem »natürlich« und einem Smiley geantwortet. Jetzt will sie wissen, ab wann er da sein wird. Sebastian versteht das nicht, er kennt sie doch kaum. Er hat sie nur einmal bei einem Brunch getroffen und dort standen sie nur in der gleichen Gruppe herum. Er mochte ihren Kurzhaarschnitt und ihren bissigen Humor. Aber sie hatte auch etwas an sich, was ihn abschreckte. Eine komische Art andere zu kritisieren. Zumindest das, was sie sagten. Sobald dann aber jemand versuchte, den Sprecher oder die Sprecherin in Schutz zu nehmen, beharrte sie darauf, dass sie sagen könne was sie wolle. Er hat ihr seine Telefonnummer nur gegeben, weil sie ihm einen Link schicken wollte, von dem sie überzeugt war, dass er ihn interessant finden könnte. Er hatte zugestimmt. Es ist ihm wichtig, dass man höflich miteinander umgeht. Freundlich zueinander ist. Manieren hat. Grundsätzlich versucht er Menschen zu integrieren. Er möchte nicht abweisend sein. Natürlich hätte er sagen können: »Nein, meine Telefonnummer gebe ich dir nicht«, aber dann hätte er wie ein kleines Kind geklungen und viel zu dramatisch. Sie hatten ja nicht einmal miteinander gestritten. Für den Link hatte er sich damals bei ihr bedankt, ihn aber niemals geöffnet. Es ging um Biotopvernetzungen. Dass sie sich danach noch einmal bei ihm melden würde, damit hat er nicht gerechnet. Wut steigt in ihm hoch. Er will sich jetzt nicht verpflichtet fühlen, ihr mitzuteilen, wann genau er ankommt. Aber gar nicht zu antworten kommt ihm auch schäbig vor. Wahrscheinlich kennt sie außer Johannes und ihm niemanden sonst auf dem Picknick. Sebastian kramt in seiner Hosentasche nach der bereits geöffneten Packung Fisherman’s Friend und legt sich eines daraus auf die Zunge. Die Schärfe hat etwas Stechendes und befreit seine Atmung, mehr aber nicht. Seine Gedanken kreisen weiter um Tamaras SMS. Wenn er ihr mitteilt, wann er ankommt, denkt sie bestimmt, sie sind miteinander verabredet. Dieser Gedanke behagt ihm nicht. Sebastian schiebt das Bonbon zur anderen Mundhälfte hinüber und bemerkt, wie der scharfe Geschmack langsam nachlässt. Er sieht auf das Display seines Telefons. Zehn vor fünf. Das ärgert ihn. Er wäre gerne pünktlich gewesen. Das verlangt zwar niemand von ihm und am allerwenigstens Johannes, aber er mag es, wenn er genau dann ankommen kann, wenn alle erst peu a peu eintrudeln und das Hallo-Sagen noch überschaubar ist. Weil noch nichts in Gang gekommen ist. Weil alles erst noch im Entstehen begriffen ist. Außerdem mag er es, wenn er noch keine Entscheidungen treffen muss, zu wem er sich hinstellt und wen er wann wieder verlässt, um auch noch mit anderen sprechen zu können. Wenn er jetzt auf der Stelle losfährt, ist er in fünfunddreißig Minuten da. Sein Telefon piepst. Eine neue Nachricht von Tamara. Sie lässt ihn wissen, dass sie schon im Park ist. Sie sitze jetzt am Brunnen und warte dort auf ihn. Sebastian schnappt innerlich nach Luft. Seine Vorfreude auf das Picknick schwindet gerade. Er presst seine Lippen aufeinander und denkt, das hat er nun von seinen guten Manieren. Aber jetzt ist Schluss mit seiner Höflichkeit. Er wird sie dort einfach sitzen lassen. Er wird es zumindest versuchen.

 

"