Alltag # 76 (Marie und der Schlaf…)

Alltag # 76

Marie schläft gerne. Auch gerne lange. Für Marie ist der Schlaf die einzige Zeit, in der sie sich entspannt vorkommt. Aber neuerdings lässt sich dieser komaähnliche Zustand nicht mehr so leicht herbeiführen. Als Kind lief das mit dem Hinübergleiten noch einwandfrei ab. Auch noch als Jugendliche. Marie brauchte sich nur irgendwo hinzulegen und weg war sie. Aber seit einigen Monaten hakt da etwas. Dass es mit ihrer Lieblingsbeschäftigung so steil bergab geht, passt ihr nicht. Sie seufzt deswegen öfter, vor allem abends, wenn sie wohlig warm im Bett liegt, müde ist vom Essen und erschöpft vom Tag. Sie sehnt sich Bewusstlosigkeit herbei aber es fallen nur Gedanken ein. Belästigen sie. Auch unbewältigte Situationen stehen vor ihr Schlange. Das erschöpft Marie und sie wälzt sich im Bett. In einem Kingsize Bett. Sie hat es sich nicht wegen eines neuen Liebhabers zugelegt, sondern, um dem Gott des Schlafes Ehre zu erweisen. Marie kann die Dinge, die ihr im Kopf herumgeistern, nicht stoppen, das beunruhigt sie. Deswegen versucht sie neuerdings das Einschlafen herbei zu zwingen, indem sie Hilfsmittel und Tricks anwendet. Sie fokussiert sich auf ihre Atmung, hört sich selbst beim Ein- und Ausatmen zu und versucht dabei nicht abzuschweifen. Oder hört der Sprecherin ihres Lieblingspodcasts zu. Fällt der Schlaf dann immer noch nicht über sie her, steht sie wieder auf und reibt sich die Fußsohlen mit ätherischen Ölen ein. Oder sie geht in die Küche, hängt mehrere Beutel Guten-Abend-Tee in die Tasse und gießt sie mit kochendem Wasser auf oder stürzt noch schnell ein Bier hinunter. Manchmal bedauert sie schon, dass das Einschlafen nicht so etwas wie Weihnachten ist, das man nur einmal im Jahr zu bewerkstelligen hat. Oder, dass sie es nicht einfach abschaffen kann, so wie sie das Feiern ihres Geburtstages erfolgreich abgeschafft hat. Aber im Grunde genommen ist sie doch froh darüber, dass das Einschlafen keiner Mode unterworfen ist, und einfach so aufgegeben werden kann. Denn sie möchte, dass das Aufsuchen ihres Fluchtorts, der Zustand des Wegdriftens weiter Bestand hat, weiter Teil ihrer täglichen To-Do-List bleibt, egal wie mühsam es ist.

 

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