Alltag # 77
Die Therapeutin bittet Sebastian, den Platz zu wechseln. Er soll sich auf die Couch legen. Sie will zum Abschluss noch eine Körperübung mit ihm machen. Sobald er ausgestreckt daliegt, wird sie ihm ein Kissen unter den Kopf schieben. Das kennt er schon von anderen Übungen. Jedesmal hofft er, das Kissen möge nicht weiß sein. Aber auch heute ist es wieder weiß. Er mag die Farbe nicht. Oder fast nicht. Er mag sie zum Beispiel nicht bei Autos, bei Hosen, bei Esszimmertischen, bei Fliesen für das Bad, aber bei Hasen und bei Frischkäse. Er befürchtet, Spuren auf dem Stoff zu hinterlassen. Sobald er aufsteht, werden sie zu sehen sein: gräuliche Flecken, irgendein Schmutz aus seinen Haaren. Seine Haare sind bestimmt nicht sauber genug für so ein weißes Kissen, auch dann nicht, wenn er sie gestern erst gewaschen hat. Bei gelben, roten oder grünen Kissen würde er solche Befürchtungen nicht haben. Diese Farben sind für ihn schmutzkompatibel. Weiß nicht. Er kann nicht verstehen, was seine Therapeutin an dieser Farbe so prickelnd findet. Die Körperübung soll ihn jetzt lockerer machen, aber das Kissen verdirbt ihm alles. Er ist nicht richtig bei der Sache. Nun steht seine Therapeutin auch schon wieder auf, die Stunde ist zu Ende. Sebastian nennt das immer „die Stunde“, obwohl es nie eine volle Stunde ist, sondern nur fünfundvierzig Minuten. Seine Therapeutin geht zu den Decken an der gegenüberliegenden Wand. Es gibt einen ganzen Stapel davon, akkurat gefaltet und übereinander gelegt. Nicht schlampig, so wie er das machen würde. Seine Therapeutin greift nach der oberen, steht wieder vor ihm, lässt die Decke auseinander fallen und breitet sie über seinem Körper aus. Kontrolliert, ob auch seine Hände und Füße gut zugedeckt sind, ist mit ihrem Werk zufrieden, verlässt den Raum und lässt ihn unbeobachtet und allein zurück. In circa fünf Minuten wird sie wiederkommen, soviel weiß er. So läuft das immer ab. Hat sie mit ihm eine Körperübung gemacht, soll er sich danach noch ein wenig ausruhen. Unmut meldet sich bei Sebastian. Er kennt das schon, wird aber deswegen keine Sperenzchen machen. Er wird seine Augenbrauen locker lassen, wird nicht versuchen mit Falten Gram auszudrücken. Auch seine Beine wird er still unter der Decke liegen lassen, unter der blöden Billo-Decke aus Billo-Plastik-Fleece. Sie klebt schon wieder an seiner Kleidung, hält sich da fest, hat sich an ihm statisch aufgeladen. Er findet das ekelhaft. Kurz denkt er nun doch daran, seine Fersen als Waffe einzusetzen. Mit ihnen die Decke abzustrampeln. Einfach mit den Fersen ein paar Sekunden lang auf die Polsterung einzudreschen. Niemand würde das sehen. In dem Raum gibt es keine Überwachungskamera, die später etwas beweisen könnte. Aber im Moment fühlen sich seine Beine nur prall an, wie gefüllte Mehlsäcke. Zu nichts zu gebrauchen. Auch sein Gesicht fühlt sich ein wenig taub an. Vielleicht sieht er jetzt sogar überfreundlich aus. Aber er mag es nicht, wenn er wie ein gut erzogener Hund aussieht, der brav mit dem Schwanz wedelt, weil man ihm ein Leckerli vor die Füße geworfen hat. Bestimmt wollte seine Therapeutin ihm mit der Decke etwas Gutes tun, er sollte es gemütlich haben. Also wird er sich nicht bei ihr beschweren, wird sie nicht mit lauten Schallwellen aus seinem trockenen Hals belästigen oder sie sogar damit erschrecken. Die Decke liegt nicht auf ihm, sie lastet auf ihm. Er fühlt sich wie unter einem weißen Leichentuch, als wäre er schon begraben. Sebastian will seine Arme unter der Decke hervor ziehen, es gelingt ihm aber nicht, sie zu befreien. Dafür bräuchte er schon eine Erlaubnis. Die Erlaubnis müsste von seiner Therapeutin kommen. Sein Unwohlsein hat keinen Eigengeruch, denkt er. Sein Unwohlsein macht auch kein Geräusch, er hört zumindest nichts. Ihm fallen nur wieder die Worte seiner Therapeutin ein: »Ich decke Sie mit meiner schönsten Decke zu.« Ihre Stimme klang fröhlich und fürsorglich. Ihre Fürsorglichkeit presst mich auf die Liege und unter die Decke, denkt er. Jetzt hört er Schritte. Die Tür öffnet sich, die Therapeutin kommt herein und bleibt vor dem Sofa stehen. Er weiß, dass sie ihn jetzt gleich von der Last der Decke befreien wird. So läuft das jedesmal ab. Jetzt lächelt sie ihn an und nimmt ihm die Decke ab, aber nicht mehr. Der Rest bleibt. Er ist noch immer mucksmäuschenstill. Das Stillsein wird er mit nach Hause schleppen. Das mit der Decke irgendwie auch. Das kennt er schon.