Alltag # 58
Marie trug schon mal das Tablett auf die Terrasse, stellte es auf dem Stuhl ab und räumte die darauf abgestellten Dinge auf den großen Tisch mit der Glasplatte. Teller, Besteck, einen vollen Brotkorb, gekochte Eier, Gläser, die Karaffe mit dem frisch gepressten Orangensaft, in dem ein paar Eiswürfel schwammen, Butter, Salz und Servietten. Sie lehnte das Tablett gegen die Hauswand und warf einen Blick in Hannahs bezaubernden Garten. Betrachtete einzelne Bäume, knuddelige Büsche, Hannahs Kräuterbeet und rief dann durch die offene Terrassentür: »Brauchst du noch Hilfe?« »Nein«, sagte Hannah, »ich komme auch gleich, ich gehe nur noch kurz ins Bad!« Marie setzte sich in den Lehnstuhl aus Rattan und sah, wie eine rotbraune Nacktschnecke an ihr vorbei kroch. Marie verfolgte die weißlich transparente, leicht glänzende Schleimspur. Sie führte bis zum Garten zurück. Marie verstand nicht, was die Schnecke auf der Terrasse wollte. Sie kroch über trockene Holzbretter Richtung weiß verputze Hauswand. Marie fragte sich, ob die Schnecke sich dabei was gedacht haben könnte. Hier oben gab es aber nichts außer ein paar Stühlen, den großen Tisch, den kleinen Tisch und die Hauswand. Noch war es zwar schattig hier, aber nur, weil die Sonne noch vor dem Haus stand. In drei Stunden, wenn sie es übers Dach geschafft hat, wird es hier oben so heiß, dass man sich die Fußsohlen auf dem dunklen Holzboden versengt, wenn man barfuß rüber läuft. Hier wird die Schnecke austrocknen, dachte Marie, oder wegen eines Sonnenstichs ohnmächtig werden. Marie fragte sich, ob sie etwas übersah. Da ihr aber nichts einfiel, was Sinn ergeben hätte, stand sie auf, ging zur Schnecke hinüber, packte sie am Rücken und setzte sie im noch leicht feuchten Gras ab. Marie wischte sich die Hand am Rock ab, setzte sich wieder hin und war mit sich und der Welt zufrieden. Wenn nur alle Hilfsaktionen so einfach wären, dachte sie, und griff nach der Karaffe, um schon mal für Hannah und sich Orangensaft einzugießen. Marie nahm einen Schluck, genoß die kühle Flüssigkeit und den säuerlichen Geschmack, der sie wach machte, und blickte zurück in den Garten. Eine Elster landete. Genau an der Stelle, wo sie die Schnecke abgesetzt hatte. Sie pickte nach etwas. Die Schnecke landete in ihrem Schnabel und die Elster flog mit ihr auf und davon. Das Ganze hatte nicht länger als eine Sekunde gedauert. Marie wusste nicht, was sie nun denken sollte. Hannah kam auf die Terrasse. In ihrer Hand der Espressokocher. Ohne zu wissen, welche Machenschaften der Natur sich hier gerade abgespielt hatten, setzte sie sich in den zweiten bequemen Korbstuhl und verteilte lächelnd Kaffee auf zwei Tassen.
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