Alltag # 48
Es ist Vormittag neun Uhr und es regnet. Marie geht in die Küche und öffnet die Kühlschranktür. Eine gähnende Leere schlägt ihr entgegen. Das Glas Bärlauchpesto und die halb volle Tube Tomatenmark spenden ihr keinen Trost. Marie geht zur Spüle, öffnet die darunter liegende Schiebetür und greift nach der Einkaufstasche. Ein Stoffbeutel, der zusammengeknüllt in einem Eimer liegt. Zusammen mit ihm verlässt sie das Zimmer und erinnert sich daran, dass es ja regnet. Marie blickt zum Wandschrank am Ende des Flurs. Im untersten Fach liegen Regenschirme. Zwei davon sind kaputt. Bei einem ist der wasserabweisende Stoff an zwei Stellen nicht mehr mit den Enden der Speichen verbunden. Nun schiebt sich der Bezug nach oben. Fast bis zur Mitte hin. Beim zweiten Schirm sind während eines Unwetters ein paar Metallstreben nach oben geknickt. Der lässt sich nicht mehr automatisch öffnen, geschweige denn schließen. Und außerdem bietet er so nur noch Schutz für eine Körperhälfte. Entweder schützt er die linke Schulter oder die rechte, je nachdem wie man ihn in der Hand hält. Aber solange er noch einen Teil von Maries Körper trocken halten kann, will sie ihn nicht wegwerfen. Auch hat sie vor, beide wieder auf Vordermann zu bringen. Dass das möglich ist, hat sie schon im Internet herausgefunden. Und der letzte Schirm hat einen gräßlichen Bezugsstoff. Sein Anblick schmerzt Marie jedesmal aufs Neue. Aber ansonsten ist er kerngesund.
Es fehlen hauptsächlich Frühstücksdinge, denkt Marie: Haferflocken, Obst, Brot, Butter, Joghurt, Milch. Marie stellt sich vor, den hässlichen Schirm im Wandschrank zu lassen und nichts zu frühstücken oder in ein paar Minuten Kaffee ohne Milch zu trinken und Marmelade aus der Hand zu schlecken, wie ein Hund. Maries Stimmungsbarometer klettert nicht einmal fünf Prozent nach oben. Marie zieht das Telefon aus der Hosentasche. Laut App regnet es gerade zu hundert Prozent und das soll auch die nächsten Stunden noch so bleiben. Marie geht an ihren Halbschuhen vorbei Richtung Küchenfenster. Sie will überprüfen, ob die Vorhersage auch mit dem übereinstimmt, wie das Wetter tatsächlich ist. Marie wirft einen Blick in den Hinterhof. Die Regentropfen hämmern so stark gegen die Glasscheiben, als wollten sie lauthals um Einlass bitten. Marie lässt sie draußen, setzt sich an den Küchentisch, hängt den Einkaufsbeutel über die Stuhllehne und erinnert sich an die Zeit, in der ihr Verhältnis zum herunterfallenden Wasser noch anders war. Als Jugendliche fuhr sie ab und zu mit dem Fahrrad zur Schule und manchmal wurde sie dabei vom Regen überrascht. Sie mochte es, wenn der Regen ihre Kleidung schwer machte. Wenn ihre Hose, ihre Bluse, ihr T-Shirt, ihre Socken an Gewicht zunahmen. Wenn die Kleidungsstücke zudringlich wurden, ja sogar aufdringlich, war das für Marie eine willkommene Abwechslung zum restlichen, so streng regulierten Alltag. Aber dann kam das mit Tschernobyl und seitdem hat Marie immer Schirme im Haus. Immer gleich mehrere. Auch Marie hat die Regeln, die damals erlassen wurden befolgt. Auch sie hat es vermieden bei Regen das Haus zu verlassen. Dass man damals im Radio den Regen so schlecht machte, hinterließ bei ihr jedoch Spuren. Dabei war es gar nicht die Schuld des Regens. Dennoch ist ihre Freude am Klatschnaßwerden nicht wieder zurückgekommen. Marie greift erneut nach ihrem Telefon. Sie wird sich Lebensmittel ins Haus liefern lassen. Dafür ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt, sagt sie sich.
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