Über die Jahre haben sich bei Marie viele Visitenkarten angesammelt. Die meisten davon wurden ihr ungefragt in die Hand gedrückt. Findet Marie sie interessant, verstaut sie sie in ihrem Geldbeutel. Leert sie zu Hause ihr Portemonnaie aus, weil es zu dick geworden ist, nimmt sie auch die Visitenkarten heraus und trägt sie zu den anderen Visitenkarten, die sich in ihrem Arbeitszimmer befinden. Meistens wirft sie dabei noch einen Blick auf die Karten, erinnert sich an die Übergabesituationen und denkt: Es ist gut, dass ich diese Kontakte habe. Jetzt kann ich mich melden, wie schön. Dann öffnet sie die Schublade und das kleinste Päckchen bekommt die neuen Visitenkarten zugesteckt. Bei Marie liegen inzwischen drei Päckchen Visitenkarten. Sie werden nach keinem Schema geordnet. Nur mit einem Haushaltsgummi zusammengehalten. Und in der Schublade bleiben sie dann liegen. Sie werden nicht weggeworfen. Manchmal kommt es vor, dass Marie nach ein paar Jahren, eines der Päckchen aus der Schublade nimmt, den Haushaltsgummi abzieht und sich die Kärtchen ansieht. Dann liest sie die Telefonnummern, die Vor- und Nachnamen, die E-Mail Adressen, die Städtenamen, die Strassennamen und ihr fällt nichts dazu ein. Keine Situation. Keine Person. Kein Jahr. Kein Umstand. Nichts aus ihrer Vergangenheit passt zu einer von diesen Karten und das erschreckt sie. Hat der Schreck nachgelassen, zieht sie den Gummi wieder über das Päckchen und fragt sich, ob das Bedürfnis noch einmal auftauchen wird, sich diese Menschen wieder näher zu bringen.
»Sturztrinken« = Sich solange Alkohol einflößen bis man umfällt. Ich würde mich sofort bereit erklären, jedem oder jeder einen Kinnhaken zu verpassen, damit er oder sie zu Boden geht. Aber ich nehme an, sie wollen keine Schmerzen spüren. Nur die Ohnmacht.
Auf Elba gibt es eine Kirche, die oben auf einem Hügel liegt. Der Weg dorthin ist steil. Findet eine Beerdigung statt, sieht man oft ältere Männer und Frauen am Wegrand stehen. Jüngere ziehen an ihnen vorbei, zur Kirche hoch. Die Älteren sind dafür schon zu schwach. Aber jeder von ihnen geht noch so weit hoch, wie es die körperliche Verfassung zulässt und erst dann bleiben sie am Wegrand stehen. Eine Stunde lang, um ihre Anteilnahme kundzutun.
Es ist Sonntag. Sebastian steht in einem Café vor dem Tresen und wartet darauf, seine Bestellung aufzugeben. Er findet es nervig, so lange warten zu müssen. Früher, denkt Sebastian, waren die Dienstleistungen noch Dienstleistungen, und das war äußerst zufriedenstellend. Mein Vater brauchte noch nicht einmal das Auto zu verlassen, um es vollgetankt zu bekommen, aber heutzutage muss man immer mehr selbst machen, um etwas zu bekommen. Und genau das findet Sebastian am schlimmsten. So wie neulich, als er in einem Flughafenrestaurant in Norwegen zuerst fünf Minuten anstand und dann, nachdem er schon bezahlt hatte, aufgefordert wurde, sich sein Mittagessen selbst in der Mikrowelle aufzuwärmen. Mit dieser Mode, denkt Sebastian, muss man sich bald auch noch sein Grab selbst zuschaufeln. Hinter dem Tresen ist eine schwarze Tafel angebracht. Mit weißer Kreide wurden die Getränke handschriftlich aufgelistet. Sebastian weiß aber schon, was er trinken wird. Er wusste es schon, bevor er das Café betreten hatte: einen Americano mit einem einfachen Espresso, denn zum Frühstück hatte er bereits einen doppelten und er will seinen Herzschlag nicht noch mehr in die Höhe treiben. Sebastian starrt die Tresenkraft an. Es ist undenkbar, dass die junge Frau seinen Blick nicht spürt, so wie seine Augen gerade glühen. Sie aber zieht Gabeln aus einem Besteckkasten, Servietten aus einer Box und verteilt Kuchenteller auf einer Arbeitsfläche. Die vier Frauen in der Schlange vor ihm, haben schon bestellt und dürfen sich bereits setzen. Genau das würde Sebastian auch so gerne tun. An seinem zweiten freien Tag in einem bequemen Sessel sitzen und die Zeitung lesen. Dann wäre es ihm auch egal, wann der Kaffee fertig ist. Aus Erfahrung weiß er, dass ein Dazwischenpatzen ihn auch nicht schneller ans Ziel bringen wird. Also verkneift er sich ein lautes: Hallo, sehen Sie mich, ich existiere! Die Schlange hinter Sebastian hat sich bis zur Eingangstür verlängert. Die Tresenkraft holt Scones und einen veganen Kuchen aus einer Glasvitrine. Sebastian zieht sein Portemonnaie aus der Tasche und legt einen Fünfeuroschein auf den Zahlteller. Auch das bringt sie nicht aus der Ruhe. Sie schüttet Hafermilch in ein kleines Milchaufschäumgefäß und dreht an dem Knauf für den Wasserdampf. Sie legt kleine Löffel auf Untertellern aus und Sebastian hat Zeit die platzenden Blasen vom Milchschaum zu zählen. Sie legt auf jeden Unterteller einen Cantuccini und Sebastian sagt in einem gereizten Tonfall: »Multitasking zählt wohl nicht zu ihren Stärken!« Sebastian bemerkt, wie sich an den unteren Lidern der Tresenkraft Wasser ansammelt. Er beißt sich auf die Lippe und atmet tief durch. Nun nimmt die junge Frau seine Bestellung entgegen. Als sie Sebastian den Americano samt Unterteller, Löffel und Cantuccini auf den Tresen stellt, vermeidet sie seinen Blick. Sebastian greift nach der Tasse, lässt sich das Wechselgeld nicht zurückgeben und trägt seinen Americano zu einem freien Tisch. Sein Plan, im Sessel zu sitzen und Zeitung zu lesen, löst in ihm keine Freunde mehr aus.