Du # 44 (Tonarbeit fällt von der Wand…)

Du # 44

»Gestern ist meine Tonarbeit in der Galerie zu Bruch gegangen. Der Galerist meinte, das sei während des Aufbaus passiert. Das liege wohl an der Vorrichtung, die ich angebracht hätte. Ich fand das komisch, denn bei mir im Atelier hat die Aufhängevorrichtung gehalten. Weil in zwei Tagen schon die Eröffnung ist, bin ich schnell zur Galerie geradelt. Als ich ankam, telefonierte der Galerist gerade und gab mir zu verstehen, dass ich warten solle. Ich wartete zwanzig Minuten. Dann bat er mich ins Büro. Ich fragte nach, ob die Versicherung den Schaden übernehmen würde. Er lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und sagte, er möchte mich eins gerne wissen lassen: Es gäbe zwei Sorten Künstlerinnen, die coolen und die uncoolen. Die uncoolen würden immer einen Terz machen, die würden immer gleich nach der Versicherung schreien und andere beschuldigen, etwas falsch gemacht zu haben. Aber die coolen, die würden sofort verstehen, dass auch mal etwas schief gehen kann und würden die Chance, dass sie ausgestellt werden, nutzen. Die wollen nicht, dass ihre Arbeiten im Atelier verrotten. Und dann meinte er noch, dass er aus Erfahrung wisse, dass aus den uncoolen nie etwas werden würde, aber aus den coolen schon. Denn die coolen seien diejenigen, die schnell etwas Neues machen würden und das Werk dann noch rechtzeitig vor der Eröffnung selbst in die Galerie bringen würden.«

 

 

Du # 43 (Ich gehe nicht gerne auf etwas zu)

Du # 43

»Ich gehe nicht gerne auf etwas zu, ich breche auch nicht gerne auf, um mir etwas Neues zu erobern. Zu lernen, leckere Kuchen zu backen oder Wasserski zu fahren ist mir schnurz. Auch mir neue Landschaften für Spaziergänge zu erobern. Meine Zukunft strukturiere ich deswegen auch nicht gerne. Ich mache einfach nicht gerne Pläne, auch nicht solche für den kommenden Sommer. Ich denke nicht: dieses Jahr werde ich mir eine Datsche an einem See pachten. All dieses Vorwärtsstreben, all diese Vorwärtsbewegungen liegen mir nicht. Was mir im Blut liegt, ist das Weggehen. Ich gehe gerne weg. Solange ich mich von etwas entfernen kann, ist die Welt für mich in Ordnung. Ich entferne mich auch gerne von Personen. Das Bedürfnis Distanz herzustellen ist groß. Ich habe so eine ungestillte Sehnsucht danach. Immer wieder spüre ich: lieber weg als hin. Davon kann ich gar nicht genug bekommen. Da hat etwas abgefärbt. Da ist etwas übergesprungen. Da wurden dunkle Flecken gemacht auf das weiße Kind, in dem weißen Haus, mit dem weißen Teppich. Mittlerweile sind sie schon ein wenig ausgeblichen, aber sie sind noch da. Untergehen tut hier nichts. Nach wie vor weiß ich (kenne ich die Angst) es könnte wieder so sein. Es könnte schnell so sein, dass wieder zu wenig Distanz da ist.«

 

 

Du # 39 (Empathie zeigen)

Du # 39

»Man könnte schon fast behaupten Empathie sei mein zweiter Vorname. Ich kann Empathie so schnell ausschütten wie andere Adrenalin. Sie ist bei mir im Überfluss vorhanden und will nicht ausgehen. Das Kontingent scheint unendlich groß und zäh zu sein. Das stößt sogar mir manchmal unangenehm auf. Es kommt mehrmals am Tag vor, dass ich mich in andere hineindenke und mir vorstelle, wie es ihnen geht oder was sie gerade aushalten müssen. Ich denke dabei an Menschen, aber nicht nur. Es können auch Tiere sein, aber auch anderes. Auch Zeugs. Vor fünf Minuten hat mein Körper schon wieder Empathie bekundet. Auf der Straße ging ein Mann neben mir, der seinen Kaugummi auf das Pflaster spuckte. Ich blieb stehen und überlegte, wie der Kaugummi sich jetzt wohl fühlen muss. Gerade war er noch in einer warmen Mundhöhle, in der es angenehm feucht und warm war, so wie in einem Thermalbad. Gerade wurde er noch von einer Zunge liebkost, von Zähnen geknetet. Seine Akupressurpunkte wurden berührt, nichts an ihm brauchte sich auf Dauer zu verspannen. Ständig konnte er seine Form verändern und cooler Shapeshifter sein. Er musste nicht das bleiben, was er gerade noch war. Brauchte nicht auf einer Stelle ausharren. Er wurde berührt, gewärmt und bewegt. Und sei es nur von links nach rechts. Aber nun lag er so tief unten auf der Straße und wurde einfach sich selbst überlassen. Ich habe ihn dann noch eine Minute lang angeschaut, das war Ehrensache.«

 

Du # 37 (Mandarinen essen)

Du # 37

»Als Kind gab es eine Zeit, in der ich keine Mandarinen aß. Ich mochte zwar ihren Geschmack, aber nicht die Haut und noch weniger die kleinen weißen Fäden, die auf ihr klebten. Spürte ich sie auf der Zunge, verursachte das einen leichten Ekel. Das lag an der Trockenheit und der eigenartigen Konsistenz dieser Fäden. Sie schmeckten nach nichts und kamen mir wie Styropor vor. Aber da ich die Farbe der Mandarinen mochte und auch, dass sie so klein waren – als Kind waren Mandarinen für mich immer die Babys der Orangen und nicht eine eigene Art – habe ich mir etwas einfallen lassen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich auf diese Idee kam. Wie immer schälte ich zuerst die Frucht und warf die Schalen weg. Aber danach verteilte ich dann alle Spalten der Mandarine auf die heißen Rippen des Heizkörpers in der Küche. Zwischen jeder Rille lag eine. Dort blieben sie dann eine Zeit lang liegen. Ab und zu habe ich sie mit dem Finger angestupst, um zu überprüfen, wie weit sie sind. Denn ich konnte genau spüren, wann der Zeitpunkt gekommen ist, mit der Operation zu beginnen. Die Haut musste bis zum Platzen gespannt sein und sich so trocken anfühlen wie Papier. War das der Fall, brauchte ich mit dem Fingernagel nur noch die Haut aufzureissen. Dafür wählte ich die innere Kurve des halbmondförmigen Stücks. An der Stelle kam mir die Haut sowieso wie eine Naht vor. Ich riss die Spalte auf und löste die Haut vom Fruchtfleisch. Das ging so leicht, als wäre sie ein Kleidungsstück, das man der Mandarine jederzeit ausziehen kann. Das filetierte Furchtfleisch schmeckte köstlich. Aber was mir am meisten Spaß bereitete, war das Entkleiden. Die Mandarine nackt zu sehen. Aber das bereitet mir schon lange kein Vergnügen mehr. Genauso wenig wie mich selbst unverpackt zu sehen.«

 

"

Du # 35 ( Kühlschranktür nur einmal öffnen)

Du # 35

»Nachdem wir schon ein halbes Jahr zusammen waren, wollte ich auch mal ihre Eltern kennenlernen. Beziehungsweise die Mutter. Den Vater gab es ja nicht mehr. Damals hatte ich noch ein Auto. Einen alten Renault. Im Sommer sind wir dann gemeinsam runtergefahren. Die Fahrt dauerte mit zwei großen Pausen fast zehn Stunden. Und obwohl ich vom Fahren müde war, konnte ich in der ersten Nacht nicht gut einschlafen und bin auch am Morgen früh aufgewacht. Aber dann dachte ich mir, bevor ich mich nochmal auf die Seite drehe und versuche weiter zu schlafen, könnte ich auch aufstehen und für alle Frühstück machen. Ich gebe es zu, irgendwie wollte ich auch als sympathischer Schwiegersohn rüberkommen. Also habe ich geduscht, bin in die Küche marschiert und war da aber gar nicht allein. Die Mutter war auch schon da. Ich sagte ihr, dass sie heute nichts tun müsse, denn ich würde das Frühstück zubereiten und später dann auch noch für uns kochen. Zuerst habe ich den Käse aus dem Kühlschrank geholt und ein paar Tomaten, damit beides Zimmertemperatur annehmen konnte. Danach habe ich die Teller, die Tassen und das Besteck auf den Tisch verteilt. Den Käse auf einem Holzbrett ausgelegt und die Butter aus dem Kühlschrank geholt. Die habe ich dann auf einen Kuchenteller getan, damit insgesamt alles schön aussieht. Dann bin ich wieder zum Kühlschrank, ich wollte auch noch Eier machen. Da stand die Mutter auf, kam zu mir und sagte: „Also wir überlegen uns vorher immer ganz genau, was wir aus dem Kühlschrank brauchen und dann machen wir die Tür nur ein einziges Mal auf! Denn das kostet auch Geld!“ Bestimmt wollte ich mich dafür nicht entschuldigen, aber vielleicht habe ich es trotzdem getan. Ich weiß es nicht mehr. Das Ganze liegt schon so viele Jahre zurück. Aber das mit dem Kühlschrank habe ich nicht vergessen, das hat sich mir eingeprägt. Daran erinnere ich mich noch, als wäre es erst gestern gewesen. Besuchen fahren wollte ich die Mutter danach nicht mehr. Aber jetzt denke ich wieder an sie. Und das fast jeden Tag. Auch wenn ich mich dafür schäme, denke ich es trotzdem: Die sparsame Mutter lebt noch und ihre Tochter seit einem Monat und zwei Tagen nicht mehr!«

 

"