Kultur # 66 (PLZ =)

 

Kultur # 66

PLZ = 
Passfoto Lustvoll Zerreißen
Petra Lässig Zudecken
Portweinrechnung Patzig Zahlen
Pomelos Lebenslang Zuckern
Portfolios Langsam Zerkratzen
Phänomenaler Lachfalte Zunicken
Pampige Leoni Zulassen
Paare Lustlos Zueinanderfinden
Pappsüßen Lollipop Zurückfordern
Pingeligen Lehrer Zusammenscheißen
Photogene Laus Zurechtstellen
Privat Leberwürste Zuschneiden
Pessimistische Lebensinhalte Zurückerobern
Passivem Ladendieb Zuflüstern
Perfider Langeweile Zuprosten
Pausenlos Luxushäuser Zeichnen

 

 

Lebensentwürfe # 38 (Sebastians Namensschild…)

Lebensentwürfe # 38

Sebastians Namensschild wurde überklebt. Das neben seiner Wohnungstür. Er ist vor zwanzig Jahren hier eingezogen. Nicht, dass er explizit in diese Wohnung wollte, aber auf die Schnelle hatte er nichts anderes gefunden. Dass er so lange geblieben ist, erstaunt ihn heute noch. Nach dem Einzug hatte er seinen Nachnamen auf ein Stück Papier gekritzelt, es zurechtgeschnitten und neben die Wohnungstür geklebt. Mit Uhu auf ein dafür vorgefertigtes Brett, auf dem sich auch der Klingelknopf befindet. Sein Papierstreifen war ähnlich schmal wie die Spruchbänder der Fortune Cookies. Das mit dem langen dünnen Streifen hatte er absichtlich so gemacht. Er wollte einen Trick anwenden. Sich selbst auf einem Streifen eines Fortune Cookies sehen. Wenigstens für seine Augen sollte sein Name wie eine positive Prophezeiung aussehen. Er mochte seinen Nachnamen nicht. Es war ihm immer noch nicht recht, dass er den gleichen Namen trägt wie sein Vater. Es war wegen der Art des Vaters und der Geschichte die er mit ihm hat. Die Buchstaben hat er mit einem rotem Filzstift auf das Papier geschrieben, weil er vieles lieber mag, wenn es farbig ist. Auch seinen Namen fand er in rot erträglicher. Die Intensität des Rots blich über die Jahre aus, aber die einzelnen Buchstaben waren immer noch gut zu sehen. Der Klebstoff hielt auch durch. Aber dann geschah etwas. Vor ungefähr einem Jahr. Über Nacht. Als Sebastian eines morgens seine Wohnung verließ, musste er feststellen, dass sein Name auf einmal fünf mal so groß war, wie noch am Tag zuvor. Nun zeigte er sich in tiefstem Schwarz auf einem strahlend weißen Etikett. Auf einem sieben mal zehn Zentimeter großen selbstklebendem Stück Papier mit abgerundeten Ecken. Als Sebastian das sah, dachte er als erstes, die Hausverwaltung hätte das veranlasst. Dass sie sich im Hausflur mehr Vereinheitlichung wünscht. Dann ging er los, um alle anderen Schilder im Haus zu inspizieren. Er lief die Stockwerk hoch und runter und sah sich neben jeder Wohnungstür das dazugehörige Namensschild an. Aber nur seines war überklebt und hatte dieses große Format. Alle anderen wirkten unverändert und auch nicht wie frisch aus dem Drucker kommend. Sebastian empfand die neuen Buchstaben als zu aufdringlich. Das ganze Schild als zu pompös. Es passte ihm nicht, dass sein Name nun jedem so ins Auge sprang. Auch war er in bold ausgedruckt, was ihm auch nicht behagte. Dieses Hervorgehobene. Aber er ließ das Etikett an seinem Klingelbrett. Er dachte, dass sich in den nächsten Tagen klären würde, wie es dort hingekommen war. Aber es tauchten keine Hinweise auf. Nach zwei Wochen vergaß Sebastian die ganze Sache. Auch deswegen, weil er nicht mehr hinsah. Er wich den Großbuchstaben aus. Bis es rund ein Jahr später abends an seiner Tür klingelte. Sebastian erwartete niemanden und war sich nicht sicher, ob er öffnen sollte. Aber da er gerade nicht aus der Dusche kam oder in Unterwäsche war, entschied er sich die Tür zu öffnen. Manchmal benötigen Nachbarn etwas von ihm, fragen nach einer Zwiebel oder ob er für einen Abend einen Stuhl entbehren kann. Auch solche Nachbarn, die er vorher noch nie im Haus gesehen hatte. Als er die Tür öffnete, stand der Nachbar von oben vor ihm. Er kannte ihn kaum, erinnerte sich auch nicht an seinen Namen, nur daran, dass er schon mehrere Jahre hier wohnte und an seine in sich gekehrte Haltung. Sah er ihn im Treppenhaus, hielt er seinen Kopf gesenkt. Er stieg nur mit zu Boden gerichteten Augen die Treppen rauf oder runter. Sebastian grüßte ihn trotzdem. Obwohl er sich nie sicher war, ob der Nachbar das wollte. Dieser hob aber jedesmal seinen Kopf und grüßte zurück. Persönliches tauschten sie nie aus. Auch nichts Unverfängliches. Der Mann hatte meistens Kleidung an, die an das Militär erinnerte. Camouflage Hosen mit vielen Seitentaschen und dazugehörige Jacken mit ebenso vielen Zusatztaschen. Ein paar Mal nahm Sebastian für ihn Pakete entgegen, kühlschrankgroße Pakete aber das war auch schon alles an Kontakt, den er über die Jahre mit ihm hatte. An dem Abend hatte der Nachbar das erste Mal ohne ersichtlichen Grund geklingelt. Er sagte: »Ich möchte mich noch von Ihnen verabschieden. Ich ziehe um, in eine größere Wohnung und in einen anderen Stadtteil. In den nächsten Tagen werde ich nur noch Kleinigkeiten abholen. Den größten Teil habe ich schon weggebracht.« Sebastian wunderte sich über die plötzliche Mitteilsamkeit seines Nachbarn, freute sich aber auch über seine Verbindlichkeit. Sebastian wünschte ihm viel Glück in der neuen Wohnung und war schon dabei, die Tür wieder zu schließen, als der Nachbar ihn plötzlich anlächelte. Das freundliche Lächeln hatte einen Beigeschmack, den Sebastian nicht einordnen konnte. »Wie haben Sie das denn gefunden, dass ich Ihnen Ihr Namensschild verschönert habe? Ich habe das Schild für Sie gemacht. Beim täglichen Hochgehen hat es mich immer gestört, dass Ihr Name so klein war. Das gefiel mir nicht! Ich wusste nur nicht, ob Ihnen als Schriftbild Helvetica oder Times besser gefallen würde, habe mich dann aber für Times entschieden. In bold sieht die besser aus, finde ich. Schlanker. Das wollte ich Ihnen noch sagen, bevor ich ganz weg bin!« Sebastian war verdutzt und wusste nicht genau wie er darauf reagieren sollte. Schließlich bedankte er sich einfach nur bei ihm für seinen Einsatz und wünschte ihm noch einmal alles Gute. Den Nachbarn sah er danach nicht wieder. Aber von da an mochte Sebastian diese großen fetten schwarzen Buchstaben. Und auch Sebastian mochte Times lieber als Helvetica.

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Alltag # 103 (Traum vom Abgrund…)

Alltag # 103

Marie wachte mitten in der Nacht auf. Sie hatte geträumt, dass sich neben ihr ein Abgrund befand. Einer der nicht weggehen konnte, der neben ihr fest installiert war. Sich auch weiterhin dauerhaft dort aufhalten würde. Der Abgrund war links von ihr und Marie musste ihn tagein tagaus in Schach halten. Ihre Aufgabe war es immer wieder in den Abgrund hinein zu schauen, um besser feststellen zu können, wo genau sich die Grenze befand, zwischen ihr und dem Abgrund. Wo sie noch auf festem Grund stand und wo der Abgrund begann. Diese Linie musste sie sich ständig neu vergegenwärtigen. Sie durfte sie auf keinen Fall vergessen. Das wäre fatal gewesen. Besonders für Maries Augen war dieses Prozedere auf Dauer äußert anstrengend. Eines von Maries Augen hatte diese permanente Anstrengung so mitgenommen, dass es für sich selbst einen Ausweg gefunden hatte und nur noch bereit war, ein paar Prozent zu sehen. Jetzt musste ihr anderes Auge herhalten und die Aufgabe übernehmen. Ihr rechtes. Marie kam dann auch noch zu Ohren, dass es unterschiedliche Abgründe gibt. Auch gefräßige. Marie wollte unbedingt mehr über ihren Abgrund in Erfahrung bringen. Sie kannte sich mit ihrem noch nicht so gut aus. Sie machte sich auf die Suche nach einem Spezialisten. Sie wollte in Erfahrung bringen, welche Merkmale gefräßige Abgründe hatten und woran sie zu erkennen waren. Wodurch sie sich bestimmen ließen. Marie fand jemanden und erfuhr, dass gefräßige Abgründe einen einfach hinunterziehen können. Einfach so. Dass gefräßige Abgründe keine Grenzen akzeptieren. Sie müssten sich ab und zu einfach jemanden einverleiben, um selbst weitermachen zu können. Um weiter Abgrund sein zu können. Der Spezialist meinte, es wäre sehr wahrscheinlich, dass Ihr Abgrund sie hinunterziehen wird. Einfach mal so, weil es zum Verhalten seiner Gattung gehörte.