Alltag # 81 (Ersatzbushaltestelle..)

Alltag # 81

Alle verlassen die S-Bahn. Auch Marie. Es ist Schienenersatzverkehr. Einmal mehr kann Marie nicht ohne Unterbrechung zu ihrer Verabredung fahren und wird deshalb (wieder einmal) nicht pünktlich sein. Marie läuft auf das Klappschild zu, das in der Nähe des Ausgangs steht und betrachtet die Zeichnung, die eine Umgebungskarte darstellen soll. Die Ersatzhaltestelle wurde mit einem roten Kreuz markiert. Marie blickt nicht durch, entdeckt aber auf den Boden geklebte Fußsohlen aus Plastikfolie. Marie schätzt Schuhgröße achtundvierzig. Sie folgt den ausgelegten Spuren und verläuft sich trotzdem. Sie bittet einen Mitmenschen um Hilfe. Die Frau mit einem nicht nachahmungswürdigen Kleidungsstil entpuppt sich als erstaunlich zugewandt und darüber hinaus auch noch gut informiert. Woher nimmt diese Frau bloß diese Herzlichkeit, fragt sich Marie. In dieser Stadt ist die doch schon längst ausgestorben. Zieht sie sich selbst immer wieder neue Freundlichkeitspflänzchen hoch. Marie versteht auf Anhieb, was die Frau ihr erklärt. Aber sie möchte sich gerne noch etwas länger in der Nähe dieser Frau aufhalten. Diese Frau stimmt sie plötzlich so zufrieden mit sich und der Welt. So sehr, dass sie den Drang verspürt, der Frau auf der Stelle etwas schenken zu wollen. Geld ist nicht angebracht. Bonbons wohl auch nicht. Marie möchte nicht, dass die Frau sich wie ein Tier im Zoo vorkommt, dem man auf dem flachen Handteller ein paar Erdnüsse hinhält, oder ein Büschel Heu. Marie hat aber sowieso nichts Süßes in ihrer Tasche. Sie hat nur einen gebrauchten Lippenstift und eine angebrochene Packung Taschentücher und natürlich ihren Wohnungsschlüssel. Soll sie der Frau etwa ihren Schlüssel vor die Nase halten und dann sagen: mein Haus ist auch dein Haus. Die Frau lächelt Marie zu und verabschiedet sich von ihr. Marie bedauert das sehr. Deshalb bedankt sie sich noch einmal bei ihr. Inzwischen ist das schon das dritte Mal. Marie weiß nicht, wie sie sonst den Verabschiedungsprozess noch hinauszögern könnte. Die Frau lächelt ihr noch einmal zu und Marie begreift zu langsam, dass auch Spontanität einer gewissen Vorbereitungszeit bedarf. Zumindest bei ihr. Denn eine Einladung zu einer Tasse Kaffee kommt jetzt zu spät. Die Frau ist schon außer Rufweite. Maries Arme hängen schlapp herab. Dass sie die Frau nun einfach so gehen hat lassen, ohne ihr etwas anzubieten, verstimmt sie. Mit einem gewissen Unmut dreht Marie sich in die Richtung, die die Frau ihr vorgeschlagen hat. Sie hat Marie alles so einfach und präzise erklärt, dass sie nun zwar die provisorisch eingerichtete Haltestelle auf Anhieb findet aber die Weltzufriedenheit von vorhin, kann eine gefundene Haltestelle bei ihr nicht auslösen.

 

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